Sonntag, 31. Mai 2015

Bern bremst effiziente Hepatitis-C-Therapie (NZZ vom 31.5.2015)


Behandlung der Krankheit kostet 75 000 Franken – zu teuer, findet das Bundesamt für Gesundheit. Das Bundesamt für Gesund- heit (BAG) verhindert, dass Tausende an Hepatitis C Erkrankte eine heilende Therapie erhalten. Das Vorgehen des Bundesamts ist juristisch umstritten.
Birigt Voigt NZZ am Sonntag 31.Mai 2015

Ohne viel öffentlichen Widerstand hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Rationierung von Medikamenten aus Kostengründen eingeführt. Betroffen sind Patienten, die ihre Rechte nicht gross in der Öffentlichkeit einfordern: Menschen, die mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert sind.

Drogensüchtige stellen eine grosse Gruppe, doch auch Bluttransfusionen oder Tätowierungen mit nichtsterilen Nadeln gelten als Quelle der Verbreitung. 33 000 gemeldete Hepatitis-C-Infizierte leben in der Schweiz, mit bis zu 80 000 Infizierten rechnet das Bundesamt. Seit letztem August erhalten sie nur dann eine bahnbrechende, heilende Therapie mit dem Medikament Sovaldi oder seinem Nachfolger Havoni bezahlt, wenn es ihnen richtig schlecht geht.

Das BAG begründet die Einschränkung: «Bei einem nicht unerheblichen Teil von Menschen mit einer Hepatitis-C-Infektion schreitet die Erkrankung nicht fort oder nimmt einen milden Verlauf. Daher wäre es weder wirtschaftlich noch medizinisch sinnvoll, die Arzneimittel allen Infizierten zu vergüten.» Das BAG stützt sich auf die Verordnung zur Krankenversicherung (Art. 73), welche die Möglichkeit einer Limitierung ausdrücklich vorsehe.

Rechtlich bewegt sich das Bundesamt mit dieser Argumentation auf dünnem Eis. Das Schweizer Krankenversicherungsgesetz definiert Wirtschaftlichkeit nicht absolut, sondern relativ: Gleiche oder ähnlich wirkende Therapien sollen keine unterschiedlich hohen Kosten verursachen. «Es gibt in der Schweiz glücklicherweise keine gesetzliche Grundlage für die Rationierung medizinischer Leistungen», sagt Andreas Wildi, Arzt und Jurist. Über Jahre hat er zuvor im BAG jenen Bereich geleitet, der über die Aufnahme von Medikamenten in die Spezialitätenliste entscheidet und Preisverhandlungen mit den Pharmaherstellern führt.

«Das Krankenversicherungsgesetz verlangt im Einklang mit den Werten unserer Verfassung, dass wirksame und zweckmässige Arzneimittel jedem Grundversicherten zugänglich sind», argumentiert er. Die Preisbildung unterliege gesetzlichen Vorgaben. «Sind diese eingehalten, muss ein Arzneimittel vergütet werden. Stört man sich an den Kosten, kann man das Preisbildungssystem reformieren, darf aber nicht Patienten geeignete Therapien vorenthalten», so Wildi. Das Argument des BAG, viele der Infizierten brauchten die Therapie noch gar nicht, lasse sich medizinisch nicht halten. «Das ist, wie wenn man einem Menschen mit hohem Blutdruck sagt, wir therapieren erst, wenn das Herz bereits geschädigt ist», sagt Wildi.

Störend am Entscheid des BAG sei auch die willkürliche Therapie-Einschränkung bei einem der nachweislich besten Medikamente der letzten Jahrzehnte. Schweizer Gesundheitsökonomen haben untersucht, welche Kosteneffektivität (siehe Box) die erste neue Therapie mit dem Medikament Sovaldi im Vergleich mit bisherigen Therapien aufweist. Die letzte Woche im Medizin-Journal «PLOS One» publizierte Analyse des Institute of Pharmaceutical Medicine der Uni Basel stellt fest, dass nicht nur die Therapien von Patienten mit weit fortgeschrittenem Krankheitsstadium, sondern auch jene in frühen Stadien (die heute nach BAG-Weisung nicht bezahlt werden) eine Kosteneffektivität von unter 100 000 Fr. ausweisen und damit unter dem Schwellenwert liegen, den das Bundesgericht gesetzt hat.

Oliver Reich, Leiter Gesundheitswissenschaften der grössten Schweizer Krankenversicherung Helsana, hat an der Studie mitgewirkt: «Wir fordern tiefere Preise für die Therapien, aber nicht eine Rationierung des Zugangs.» Die Studie relativiert auch die in der Öffentlichkeit diskutierten Preisdifferenzen der verschiedenen Therapien beträchtlich. Betrachtet man die gesamten Behandlungskosten, so kommt die neuere Therapie mit Sovaldi in vielen Fällen bei zwölf Wochen auf 75 000 Fr. zu stehen.

Die alte Behandlung mit Interferon kostet total 51 700 Fr., ohne den permanenten Arbeitsausfall des Patienten einzurechnen: Die Behandlung dauert fast ein Jahr, erzeugt starke grippeähnliche Nebenwirkungen, Haarausfall und psychotische Veränderungen – und bleibt trotzdem in 40% und mehr Fällen ohne Wirkung.

Rechtfertigt eine Differenz von 23 000 Fr. die drastischen Massnahmen des Bundes? Das BAG findet, es sei vertretbar, erst in einem späten Stadium die Therapie zu beginnen. Der Leberspezialist Beat Müllhaupt vom Unispital Zürich widerspricht: «Ein Therapiebeginn, bevor die Leber stark vernarbt ist, erhöht die Chancen deutlich, dass der Patient keine Folgeerkrankungen wie einen Leberkrebs entwickelt.»

Fachleute schätzen, dass wegen der BAG-Rationierung derzeit 8000 bis 16 000 Patienten keine medizinische Behandlung erhalten. Das Problem liege nicht so sehr bei den Kosten der neuen Therapie, sondern am erwarteten Anstieg der Nachfrage: «Die alte Therapie hat das Leben der Patienten so verschlechtert, dass die meisten lieber mit der Infektion weiterlebten auf die Gefahr hin, eine Leberzirrhose zu bekommen», sagt ein Facharzt für Leberkrankheiten, der nicht namentlich zitiert werden möchte.

«Rechtlich hat das Bundesamt keine Basis, den Zugang aufgrund des Preises zu beschränken», sagt André Lüscher, Schweizer Geschäftsführer der Herstellerfirma Gilead. Das Krankenversicherungsgesetz lasse Einschränkungen nur zu, «wenn diese keine medizinischen Rationierungen darstellen». Lüscher hofft auf einen Umschwung: «Wir haben dem BAG stets unsere Gesprächsbereitschaft erklärt. Es ist klar, dass sich der Preis bewegt, wenn die Zugangsbeschränkung fällt.» Die Kosten seien in einigen Fällen um 30% gesunken, weil die Therapiedauer inzwischen auf zwei Monate gesenkt werden konnte.

So rechnen Ökonomen
Gesundheitsökonomen messen die Kosten einer Therapie im Verhältnis zum Nutzen. Dieser hängt von der Qualität und Menge an zusätzlich ge- wonnenen Lebensjahren ab. Jedes Jahr, das ein Patient in perfekter Gesundheit verbringt, entspricht einem QALY. In England werden Therapien bezahlt, die maximal 30 000 £ pro QALY kosten. Das Schweizer Gesetz kennt keine absolute Kosten-Nutzen-Bewertung. Das Bundesgericht hat 2010 geurteilt, dass Kosten von über 100 000 Fr. pro QALY nicht zuzumuten seien. (vob.)

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